Liebe Gemeindeglieder in der Propstei Vorsfelde,
am 25. Januar wurde die Studie zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Ergebnisse der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind erschütternd und beschämend. Von 1.259 Beschuldigten und 2.225 Missbrauchsfällen seit 1945 spricht die Studie. Zugleich stellt sie klar, dass diese Zahlen den tatsächlichen Umfang des Missbrauchs nur in einem sehr beschränkten Maße abbilden, weil den Forschern längst nicht alle Personalakten zur Verfügung standen. Die mangelnde Kooperation der Landeskirchen mit dem Forschungsverband wurde bei der öffentlichen Vorstellung der Studie ausdrücklich benannt. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Studie lediglich „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ erfassen konnte. Das bedeutet, dass in den vergangenen Jahrzehnten weit mehr als 2.225 Menschen sexualisierte Gewalt in Gemeinden und Einrichtungen der evangelischen Landeskirchen und Diakonie erfahren haben.
Die Aufarbeitung dieses menschlichen Leidens ist in der Evangelischen Kirche viel zu spät begonnen worden. Und es scheint so, als würde bis heute diese Aufarbeitung nicht überall mit der notwendigen Kraft und Entschlossenheit stattfinden. Dieses Ergebnis macht viele Menschen in unserer Kirche fassungslos, auch mich. Wie soll man einer Kirche vertrauen, in der Menschen so viel Gewalt und Leid erleben mussten?
Ich kann alle Menschen in unseren Gemeinden gut verstehen, die angesichts des Ausmaßes an Missbrauchsfällen an ihrer Kirche zweifeln und auch verzweifeln. Ich möchte Sie dazu ermutigen, trotzdem das Gespräch mit uns zu suchen: mit Pfarrerinnen und Pfarrern in Ihren Gemeinden, mit mir, mit Vertreter:innen der Landeskirche. Wir sind ebenso erschrocken wie Sie. Und wir wissen, dass die Zeit der Ausflüchte, Selbsttäuschungen und voreiligen Entschuldigungen vorbei ist und wir uns ganz neuen Fragen stellen müssen.
Auch in der Braunschweiger Landeskirche hat es in der Vergangenheit Fälle von Missbrauch und sexualisierter Gewalt gegeben. Inzwischen hat die Landeskirche eine „Fachstelle Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt“ eingerichtet. In Kürze sollen die Voraussetzungen dafür gegeben sein, dass Gemeinden und Einrichtungen für ihren eigenen Bereich Konzepte zum Schutz vor sexualisierter Gewalt entwickeln. Im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit und der Kindertagesstätten sind teilweise bereits Schutzkonzepte umgesetzt. Langsam kommen auch an anderer Stelle Formen der Prävention in Gang, die wir dringend brauchen.
Überall, wo kirchliche Mitarbeitende mit Schutzbefohlenen arbeiten, müssen wir dafür sorgen, dass Menschen sicher sind. Dass sie uns vertrauen können. Und dass wir ihrem Vertrauen gerecht werden. Die Gemeinden und Einrichtungen in der Propstei Vorsfelde stellen sich dieser Aufgabe.
Ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns auf diesem Weg unterstützen.
Ihr Ulrich Lincoln, Propst